Detail vom Lessing-Denkmal am Gänsemarkt in Hamburg, symbolisiert die Komödie

Spannende Kontroversen

Gegen Mitte des 18. Jahrhunderts blüht die Aufklärung vielfältig und bunt. Noch heute verbinden wir mit der Epoche neben bahnbrechenden wissenschaftlichen Erkenntnissen auch die Philosophie, die freier als zuvor alternative Weltanschauungen zu Religion und Bibeltreue hervorbringt. Da nicht mehr jedem Kritiker die Hölle heiß gemacht wird, sind endlich Kontroversen möglich. Umso hitziger wird die Debatte um die ‚richtige‘ Weltanschauung in den Medien geführt.

Es bildeten sich Lager – vereinfacht: das im besten Wortsinn konservative Lager der Theologen und das progressive, zu dem sämtliche ‚Freigeister‘ zu zählen sind. Der Tonfall der Veröffentlichungen und Predigen zum Thema war oft aggressiv. Man bedenke: Es geht um Weltbilder! Die Idee der Meinungsfreiheit entwickelt sich in dieser Zeit erst aus eben solchen Kontroversen.

Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!

Es begab sich zu jener Zeit – Ende der 40er Jahre des 18. Jahrhunderts – ein junger Literat namens Gotthold Ephraim Lessing in die Stadt Friedrichs II. Der Preußenkönig ist gerade dabei, das lauschige Berlin zu einem Hotspot der Aufklärung zu machen. Er versammelt Philosophen und Gelehrte um sich. Viele der großen Denker importiert er aus Frankreich, darunter auch Voltaire und La Mettrie. Besonders Letzterem haben die Freigeister ihr schlechtes Image zu verdanken. Mit provokanten Ansichten und der Verbreitung von lustorientieren Glücksvorstellungen zieht er den Zorn seines Gönners auf sich. Er ist sogar in den Skandal verwickelt, der dazu führt, dass in Preußen zeitweise die Zensur wieder eingeführt wird. Lesen Sie mehr zu diesem Fall im nächsten Beitrag der Freigeisterei!

Väterliche Sorgen

In Berlin verdingt sich der junge Lessing als Journalist, die Feder stets am Puls der Zeit. Dem Theater hält er die Treue mit Rezensionen, Übersetzungen und Komödien. Er träumt davon, ein großer Komödienautor zu werden. Sehr zum Unwillen seines Vaters, der im sächsischen Kamenz Hauptpastor ist und es noch immer nicht verdaut hat, dass sein Sohn ‚was mit Medien macht‘ und dann auch noch Unterhaltung! Davon zeugen die Briefe Lessings an seinen Vater aus dem Frühjahr 1749.1 Offensichtlich hat sich der Vater an mehreren Stellen nach Lessing erkundigt und versucht nach eigenen Vorstellungen Einfluss auf die Laufbahn seines Sprösslings zu nehmen. Dieser Übergriff und die Vorurteile sind für den 20-jährigen Lessing bitter. Die Vorwürfe des Vaters, der die ihm fremde Welt des Theaters unter Generalverdacht stellt, tun weh.

Top, die Wette gilt!

Die große Kontroverse zwischen Theologen und Freigeistern scheint in dem familiären Konflikt wiederzukehren. Lessing ist ein unabhängiger Denker, der mit vielen Ideen neue Wege beschreitet, doch er ist keiner der verlorenen Söhne. Wie könnte er seinen Vater endlich davon überzeugen? „Und wenn ich ihnen nun gar verspräche eine Comoedie zu machen, die nicht nur die H. Theologen lesen sondern auch loben sollen?“, schlägt er vor. „Halten sie mein Versprechen vor unmöglich? Wie wenn ich eine auf die Freigeister und auf die Verächter ihres Standes machte?“ (Brief vom 28.04.1749)

zwei Masken symbolisieren die Komödie und Tragödie

Vorhang auf!

Zu diesem Zeitpunkt ist „Der Freigeist“ schon fertig: Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. Auch die Komödie überträgt den großen Konflikt in ein familiäres Setting. Im Haus von Lisidor sind Adrast, der Freigeist, und Theophan, ein junger Geistlicher, zu Gast. Sie haben sich gerade mit Lisidors Töchtern verlobt: Adrast mit der lebenslustigen Henriette und Theophan mit der besonnenen Juliane. Klingt nach dem perfekten Matching.

Theophan möchte mit seinem künftigen Schwippschwager Freundschaft schließen trotz ihrer unterschiedlichen Weltanschauungen. Doch Adrast beharrt auf seinen Vorurteilen den Geistlichen gegenüber, zelebriert sich als Opfer von Intoleranz und will nichts mit Theophan zu tun haben. Die Bekehrung des Freigeists zur Freundschaft wird im Laufe des Stücks zu Theophans Projekt, das er durchzieht, „es mag auch kosten, was es will“ (3/1/S. 41).2 Doch alle Argumente und Freundschaftsbeweise sind wirkungslos. Theophan ahnt lange nicht, warum Adrast ihn wirklich hasst: Der Freigeist liebt Juliane.

Irrungen und Wirrungen

„Vorurteile und eine unglückliche Liebe sind zwei Stücke, deren eines schon hinreichet, einen Mann zu etwas ganz anderm zu machen, als er ist“, resumiert Theophan gegen Ende des Stücks (5/3/S. 85).2 Und hier kommt beides zusammen! Adrast, der Freigeist, ist alles andere als frei. Wie Theophan bereits in der ersten Szene diagnostiziert, fehlt ihm ein wichtiges ‚Wahrnehmungsorgan‘. Adrast prüft alles nur mit dem Verstand – einem Verstand, der sich auf Vorurteile versteift hat. Das Herz kommt nicht zum Einsatz. So bleibt der ‚freie‘ Geist gefangen und unbeweglich. Adrasts Weltanschauung ist geprägt von schlechten Erfahrungen und besteht vor allem darin, dass andere schlecht von ihm denken und ihm schaden wollen. Er prophezeit dem Theophan: „Sie werden sich freuen, mich zugrunde zu richten, und ich werde mich freuen, Sie von ganzem Herzen hassen zu können,“ (3/6/S. 51) – eine durch und durch negative Sicht, in der sich alle destruktiven Kräfte gegen Adrast selbst richtigen. Er ist blind für die Realität: Theophan will ihm aus großen finanziellen Schwierigkeiten helfen. Doch Adrast schlägt alles aus und vermutet hinter jeder Freundlichkeit Intrige und Verrat.

Neue Komödien braucht das Land!

Lessing hatte dem Vater angekündigt, dass diese Komödie den Theologen gefallen würde, weil sie „die Verächter ihres Standes“ zum Gegenstand der Komik macht. Was hat Lessing in dieser Komödie an die Geistlichen adressiert? Die Story, in der ein Freigeist fast sein Liebesglück verscherzt vor lauter Überheblichkeit? Das dürfte ihr Interesse wecken! Aber das ist nicht der Kern der Sache.

Lessing schreibt Komödien auf eine ganz neue Art: Die komischen Vögel, Narren und Screwballs sind nicht mehr Gegenstand von reinem Spott. Wir, die Zuschauerinnen und Zuschauer, lachen sie nicht für ihre Irrtümer aus. Lessings Komödien-Figuren berühren uns auch. Sie entsprechen nicht mehr oberflächlichen Klischees, wie in der sächsischen Typenkomödie oder der commedia dell’arte oder. Sie sind so realistisch gestaltet, dass wir nachvollziehen können, woher ihr Verhalten kommt. Die unglückliche Liebe ist die Hauptmotivation für Adrasts Hass auf den vermeintlichen Konkurrenten. Adrast ahnt selbst bis zur Auflösung des Knotens nicht, dass Theophan eigentlich auf Henriette steht.

Lachen und Lernen

Nicht das freie Denken wird in dieser Komödie als lächerlich entlarvt, sondern die Sturheit und Überheblichkeit, die den Blick für die mögliche Glückserfüllung verstellt. Ein Happy End ist erst möglich, als Theophan versteht, dass Adrast nur zu versöhnen ist, wenn er seine Juliane bekommt, und als Adrast versteht, dass niemand seinem Glück im Wege steht. Theophan und Adrast sind individuell gezeichnete Charaktere. Sie verkörpern nicht die Geistlichkeit und die Freidenker, sondern sie stehen für sich als Individuen in einem Bildausschnitt der Wirklichkeit, der nur dezent komisch verzerrt ist. Das bietet uns die Möglichkeit, uns selbst in ihnen oder in einzelnen ihrer Züge wiederzuerkennen.

Besonders wichtig in der Komödie ist für Lessing die Selbsterkenntnis der Zuschauer. Überspitzt: Das Publikum lacht nicht länger über die Figuren, sondern erkennt an den Figuren die eigenen Fehler. Aber Komik schafft es diese Selbsterkenntnis in ein Gefühl von Überwindung, Befreiung und Wachstum zu verwandeln, anstatt zu beschämen und zu bestürzen. Diese (Relief-)Funktion von Komik nutzt Lessing und rehabilitiert die Komödie zu einer Gattung mit moralischem Bildungsauftrag.

Für die Kulturschaffenden wäre es eine große Erleichterung gewesen, wenn konservativere Zuschauer diesen Mehrwert der Komödie erkannt hätten. Theater und Literatur ringen noch Jahrzehnte gegen hemmende Vorbehalte. Doch Lessing wäre vielleicht schon zufrieden gewesen, wenn der ein oder andere erkannt hätte, welche selbstzerstörerische Kraft Vorurteile und Sturheit haben.

Anatomie des freien Geistes

Auch wenn „Der Freigeist“ stellenweise stark Bezug nimmt auf den damaligen Diskurs, ist das Stück nach wie vor aktuell. Auch in heutige Debatten schleichen sich Verhärtungen ein. Aus unfairen Angriffen wachsen Vorurteile und irgendwann kommt der Austausch ganz zum Erliegen. Damit läuft die Diskussion, die eigentlich etwas bewirken wollte, ins Leere und die lebendigen Ideen sterben, ohne jemals auch nur geblüht zu haben.

Denken muss lebendig bleiben! Offene Augen, ein waches Herz und ein freier Kopf sind die Grundausstattung eines aufgeklärten Menschen und die wichtigsten Sinnesorgane eines freien Geistes.


1 Vgl.: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 11/1 Hg. von Helmuth Kiesel mit Georg Braungart und Klaus Fischer, Frankfurt/M. 1987.
2 Gotthold Ephraim Lessing: Der Freigeist. Stuttgart 1998.

Eine Auswahl zum Weiterlesen:
Monika Fick: Lessing Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart/Weimar 2010.
Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München 2008.